6. Station: Vereinigung Göttinger Werke

Von 1921 bis 1940 hatte die VGW („Verkaufsvereinigung Göttinger Werkstätten für Feinmechanik, Optik und Elektrotechnik GmbH" bzw. ab 1925 „Vereinigung Göttinger Werke") ihre Geschäftsräume gegenüber dem damaligen Chemischen Institut an der Ecke Hospitalstraße / Kurze Straße.

Nach nur langsamer Entfaltung einer spezialisierten feinmechanischen und messtechnischen Industrie im 19. Jahrhundert schlossen sich die bedeutendsten Göttinger Betriebe dieser Branche im 20. Jahrhundert in einer hochmodernen Organisationsform zusammen, an die heute die im Measurement Valley e.V. verbundenen Betriebe anknüpfen.

Die VGW bot unter Erhalt der Autonomie der Mitgliedsfirmen die erhöhten Chancen eines gemeinsamen Auftritts und schlagkräftiger Repräsentation, günstigen Einkaufs, effektiven Vertriebs sowie gemeinsamer Akquisition mit der Möglichkeit, Aufträge größeren Volumens annehmen zu können.
Die Produktion der Göttinger Betriebe war zum Teil stark exportorientiert, einige Firmen erlangten mit ihren Erzeugnissen in dieser Zeit Weltgeltung.

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Gemeinsamer Auftritt lokaler Unternehmen

In einigen Häusern an der Hospitalstraße und der Kurzen Straße befanden sich die Verwaltungs- und Werkstatträume der VGW, in der die bedeutendsten Göttinger Betriebe aus dem Bereich der Feinmechanik und der Mess- und Regeltechnik zusammengeschlossen waren. Nachdem hier zunächst der Zweckverband Überlandwerk Edertalsperre Cassel residiert hatte, erwarb die VGW das Grundstück Hospitalstraße 3a und b und Kurze Straße 17 (nach damaliger Nummerierung) im Jahr 1921, um eigene Geschäftsräume für die Anfang des Jahres gegründete GmbH zur Verfügung zu haben.

Als ein Vorteil des Standortes wurde die Lage direkt gegenüber dem (1977 abgerissenen) Chemischen Institut der Universität angesehen, durch die viele potentielle Kunden auf den Betrieb aufmerksam werden mussten. Ein Teil der Firmeninschrift ist heute noch am Haus in der Hospitalstraße sichtbar.

Gründung und Existenz der VGW bedeuteten eine bemerkenswert konsequente Fortführung der zu diesem Zeitpunkt knapp zweihundertjährigen Entwicklung der feinmechanischen und optischen Industrie in Göttingen. Diese für die Stadt äußerst wichtigen Branchen waren lange Zeit unauflöslich mit der Göttinger Universität und ihren naturwissenschaftlichen Disziplinen verbunden gewesen und hatten in den 1830er Jahren unter dem Einfluss von Gauß und Weber eine weltweit führende Position eingenommen.

Gleichwohl verstanden sich die Göttinger Mechaniker zu dieser Zeit noch als universelle Künstler und nicht als Geschäftsleute oder Industrielle. Eine Spezialisierung auf bestimmte Sachgebiete oder Produktionsschwerpunkte war ihnen ganz fremd. Die allgemein mit dem Prozess der Industrialisierung verbundenen Entwicklungen wie Individualisierung der Arbeitsmethoden, Spezialisierung in Produktion und Verkauf, Arbeit an Spezialmaschinen anstatt Handarbeit (in diesem Fall an der bis dahin universell eingesetzten Drehbank) und Massenherstellung setzten sich in den Göttinger Betrieben erst nach der Reichsgründung 1871 durch.

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts erlangte die Branche Weltgeltung und die Göttinger Produkte wurden in etliche Länder exportiert.

Überraschend früh folgte diesem Prozess der Auffächerung und Expansion die Einsicht in die Möglichkeiten, die ein gemeinsamer Auftritt und lokaler Zusammenschluss – bei Aufrechterhaltung der Autonomie der beteiligten Betriebe – bieten könnte. Bereits vor der Jahrhundertwende veranlassten die „vereinigten Mechaniker Göttingens“ auf Anregung des Universitätsprofessors und Physikers Walther Nernst die Erstellung einer Denkschrift über die Geschichte und Gegenwart ihrer Branche, mit der sie auf der Pariser Weltausstellung (heute als „Expo“ bekannt) 1900 für sich und ihre Produkte werben wollten. Das im Jahr 1900 unter dem Titel Die mechanischen Werkstätten der Stadt Göttingen, ihre Geschichte und ihre gegenwärtige Einrichtung erschienene und von dem Professor am Königlichen Gymnasium zu Göttingen
Otto Behrendsen verfasste Buch stellte die historischen Wurzeln der Göttinger Feinmechanik dar und bot den beteiligten Firmen im zweiten Teil die Gelegenheit, ihre Produktpalette ausführlich in Wort und Bild vorzustellen.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der hier beschrittene Weg mit der Gründung der VGW deutlich ausgebaut. Am Abend des 21. Januar 1921 traf sich im Göttinger Ratskeller alles, was in der Branche Rang und Namen hatte, zur Gründungsversammlung der VGW.

Elf Firmen, unter ihnen die Betriebe Ruhstrat, Lambrecht, Sartorius, Spindler & Hoyer (heute Qioptiq) und Winkel (heute Carl Zeiss) und 13 Privatpersonen (in aller Regel Eigentümer der beteiligten Firmen) brachten zusammen 150.000 Mark zur Gründung der GmbH auf.

Als Geschäftsführer wurde Dr. Erich Löwenstein eingesetzt, der zusammen mit Wilhelm Sartorius, Adolf Hoyer und dem Färbereibesitzer Leonhard Schacke zugleich den Aufsichtsrat bildete. Zweck der Gründung war nicht nur die „gemeinsame gegenseitige Unterstützung der Gesellschafter untereinander zur Vergrößerung des Absatzgebietes und des Umsatzes“, wie es unter Punkt 3 der an diesem Abend verabschiedeten Satzung heißt, sondern das Unternehmen verfolgte einen sehr weitgehenden Ansatz der Kooperation: Neben dem Aufbau einer Vertriebsstruktur für die Produkte der beteiligten Betriebe ging es um Marktaktivitäten wie die Errichtung von Zweigniederlassungen, die Einfädelung von Unternehmensbeteiligungen und -übernahmen und den Erwerb und die Nutzung von Patenten sowie den günstigen Einkauf von Betriebsmitteln. Darüber hinaus war es ein Ziel der VGW, die Produktionsseite positiv zu beeinflussen und eine gemeinsame Herstellung branchentypischer Produkte zu betreiben. Der Zusammenschluss sollte zudem die Akquisition und gemeinsame Erledigung größerer, geschlossener Aufträge für die Einrichtung kompletter Laboratorien, Institute etc. ermöglichen. Nicht zuletzt diente die VGW der gemeinsamen Darstellung auf Messen und allgemein einer schlagkräftigen Repräsentation der Göttinger Feinmechanik.

Ab 1925 in der Hospitalstraße 

Bereits zwei Monate nach Gründung der VGW gelang es, die Berliner Vereinigten Fabriken für Laboratoriumsbedarf GmbH an der Gesellschaft zu beteiligen. Der Berliner Betrieb löste umgehend seine mechanischen Werkstätten, die Tischlerei und die Klempnerei auf und übertrug sämtliche Arbeiten aus diesen Bereichen den Vereinigten Werkstätten.

Zur Leipziger Frühjahrsmesse 1921 präsentierte die VGW einen eigenen Prospekt, in dem sämtliche Mitgliedsfirmen mit ihren Haupterzeugnissen vertreten waren.

Nicht ohne Stolz zitierte der Geschäftsführer Dr. Löwenstein auf der Gesellschafterversammlung vom 21.3.1921 aus der Central-Zeitung für Optik und Mechanik vom Vortag. Im Bericht des Fachblattes über die beiden einschlägigen Abteilungen der Leipziger Messe, die Technische Messe auf dem Leipziger Ausstellungsgelände und die Vereinigte Kino-, Photo- und optische Messe in der Turnhalle Frankfurter Tor hieß es:

„Namentlich hatte die Verkaufsvereinigung der Göttinger Werkstätten für Feinmechanik, Optik und Elektrotechnik an beiden Stellen ausgestellt, wohin sich unaufhörlich wahre Völkerwanderungen ergossen. Die Leistungen, welche hier auf dem Gebiete der Feinmechanik und Optik von zahlreichen Firmen in unzähligen Instrumenten, Geräten und Apparaten gezeigt wurden, fanden die grösste Anerkennung aller sachverständigen Besucher, namentlich der ausländischen, welche auch hier vornehmlich als Käufer auftraten. Verschiedentlich wurden Bestellungen für ausländische, wissenschaftliche Institute aufgegeben.“

Mit dem Erwerb des Grundstücks in der Hospitalstraße ein knappes halbes Jahr später schufen die beteiligten Firmen auch die räumlichen Voraussetzungen für einen weiteren erfolgreichen Geschäftsgang der VGW.

Im Jahr 1925 wurde der Betrieb in Vereinigung Göttinger Werke umbenannt.

Es waren allem Anschein nach Differenzen zwischen einigen beteiligten Firmen bzw. Firmeninhabern, die ab 1934 die Existenz der VGW gefährdeten. Im Aufsichtsrat wurde das Fortbestehen mehrfach zur Disposition gestellt. Mit dem Verweis auf die entscheidende Rolle der VGW als „Bindeglied zwischen den Instituten [der Göttinger Universität] einerseits und der feinmechanischen Industrie andererseits“ gelang es dem Geschäftsführer der VGW Dr. Erich Löwenstein schließlich, die Diskussionen zu beenden. Er argumentierte mit dem gewachsenen, engen Verhältnis zwischen der lokalen Messtechnikindustrie und der Universität und betonte dessen existentielle Bedeutung für die Wirtschaft: „Durch dieses Zusammenarbeiten sei die Göttinger Industrie hochgekommen. Fast sämtliche Göttinger Dozenten wenden sich an die VGW bei Erteilung von Auskünften und Aufträgen.“

Im November 1935 schied der jüdische Geschäftsführer Dr. Löwenstein unter dem Druck der nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen aus seinem Amt und emigrierte nach New York. Sein Amtsnachfolger Ruppel wurde gleichzeitig Direktor der an der VGW beteiligten Firma Phywe, was dem Geist der Gründungskonstruktion zuwider lief und zu Komplikationen führte. Als am 3.10.1937 die treibende Kraft der Firma, der langjährige Aufsichtsratsvorsitzende der Vereinigung und Direktor der Sartoriuswerke Wilhelm Sartorius, starb, wurde die Krise existentiell. Anfang 1938 ging die Gesellschaft in die Liquidation, die wohl 1940 abgeschlossen war.

Restaurierung des Schriftzugs am Haus Hospitalstraße 10

Der Schriftzung "Vereinigung Göttinger Werke" bedurfte schon seit etlichen Jahren dringend einer Restaurierung. Measurement Valley konnte mit der Unterstützung einiger Sponsoren dieses Vorhaben nach langem Vorlauf im Sommer 2018 umsetzen. Die auf Restaurierung von Schriftzügen spezialisierte Fa. Lisa Witte und Sohn hat den Auftrag übernommen und den Schriftzug erneuert. Gleichzeitig wurde ein Schild am Haus angebracht, dass auf die Bedeutung des Hauses für die Wirtschaftsgeschichte in Göttingen hinweist.

Bildergalerie zur Restaurierung