5. Station: Alte Sternwarte

Auf einem alten Turm der Göttinger Stadtbefestigung im Stadtteil Klein Paris wurde 1748 bis 1751 die erste Universitäts-Sternwarte eingerichtet. Hier wirkte bis zu seinem Tode 1762 der Mathematiker und Astronom Tobias Mayer, der sich u.a. durch seine Arbeiten über Mondbewegung und -atmosphäre, Fixsterne und Erdmagnetismus einen hohen wissenschaftlichen Rang erwarb und von Gauß als „immortalis Mayer" („unsterblicher Mayer") bezeichnet wurde.

Carl Friedrich Gauß wurde als Student (1795-1798) u.a. im Observatorium ausgebildet und leitete die Einrichtung von 1807 bis zum Umzug in die Neue Sternwarte an der Geismarlandstraße in 1816. Mit zahlreichen an lokale Betriebe vergebenen Aufträgen zum Bau oder zur Wartung von Messinstrumenten legte die Sternwarte einen Grundstein für das Entstehen einer eigenständigen Göttinger Feinmechanik- und Messtechnikindustrie.

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Klein Paris

Was heute harmlos Turmstraße heißt, wurde im 16. Jahrhundert Stinkende Gasse und im 18. Jahrhundert Klein Paris genannt und war eines der verrufensten Quartiere Göttingens. Hier, am äußersten Rand der Stadt, hatten sich arme Einwohner, um Material und damit Kosten zu sparen, kleine Häuser direkt an die Innenseite der aus dem 13. Jahrhundert stammenden Stadtmauer gebaut. Die Wohnverhältnisse in diesen sogenannten Buden stanken buchstäblich zum Himmel. Erstaunlicherweise hat die Göttinger Messtechnik in diesem Fleck Erde in gewisser Weise ihren „Geburtsort“.

Bereits kurz nach der Gründung der Georgia Augusta gab es den Wunsch, die Universität mit einer Sternwarte auszurüsten. Im Vordergrund stand dabei nicht so sehr das Interesse an der Erforschung der Himmelskörper, sondern zunächst einmal sollten die Gegebenheiten auf der Erde mithilfe exakter Methoden der Ortsbestimmung und hieraus entwickeltem seriösem Kartenmaterial geklärt werden.

Versuche, auf dem Dach der Paulinerkirche oder im Turm der Albanikirche ein Observatorium einzurichten, scheiterten jedoch.

Als der König und Universitätsgründer Georg II. der Georgia Augusta im August 1748 einen Besuch abstattete, nutzte der Mathematiker und Astronom Johann Andreas von Segner (1704-1777) die Gelegenheit, eine Genehmigung für die Umnutzung eines alten Stadtturms auszuhandeln. 1751 war das Observatorium fertiggestellt.

Zum Standort heißt es in einer 1765 verfassten „Gelehrten-Geschichte“:

„Zum Grunde des Observatorii hat man einen von den runden Thürmen in der Stadtmauer gewehlt, welche vor diesem zur Vertheidigung dienten. Man hat darauf einen Saal erbauet, wo die Werkzeuge zum Observiren befindlich sind, und auch selbst observirt werden kann. Will man etwas dergleichen unter freyem Himmel verrichten, so lassen sich die Werkzeuge gleich aus dem Saale auf einen Gang schaffen, der ihn rings umgiebet.“[1] Am Fuße des Turmes lehnte sich eine der für die Gegend typischen engen Buden an die Stadtmauer.

Noch vor der Fertigstellung des Observatoriums erhielt der damals 27-jährige Mathematiker und Astronom Tobias Mayer (1723-1762) einen Ruf nach Göttingen, wo er zusammen mit Segner die Sternwarte fertigstellen und leiten sollte. Mayer, der im Homannschen Kartenverlag in Nürnberg mitgearbeitet hatte und wohl v.a. wegen seiner Fähigkeiten in Landvermessung und Kartographie nach Göttingen geholt worden war, erwarb sich in dermaßen raschem Tempo einen Ruf als bedeutender Naturwissenschaftler, dass er schon drei Jahre nach der Inbetriebnahme der Sternwarte in Bleibeverhandlungen – Mayer hatte Rufe aus Berlin und Petersburg erhalten – die Übernahme der alleinigen Leitung des Observatoriums durchsetzen konnte. Diesen Posten behielt er zeitlebens bei.

Mayer erwarb sich als Theoretiker der Mondbewegung, Erfinder des Spiegel-Repetitionskreises und durch den Nachweis des Fehlens einer Mondatmosphäre große Verdienste in der Mondkunde. Seine Mondkarten, deren Originale heute in der Universitätsbibliothek aufbewahrt werden, machten Mayer endgültig berühmt. Mit ihrer Hilfe ließ sich die Berechnung des Standortes auf hoher See enorm verbessern. Außerdem legte Tobias Mayer Fixsternverzeichnisse an, verbesserte die Winkelmessinstrumente und legte die Grundlage für die Göttinger Forschungen über den Erdmagnetismus, die später von Gauß vorangetrieben wurden. Als 1756 in Lissabon das berühmte Erdbeben stattfand, führten Mayers hier in Göttingen gemachte Beobachtungen zu wichtigen Verbesserungen in der Erdbebenforschung. Kurz, Tobias Mayer zählte zu den bedeutendsten Naturwissenschaftlern seiner Zeit und wurde später von Gauß als „immortalis Mayer“ („unsterblicher Mayer“) geadelt. Nach nur zwölf Jahren in Göttingen starb Tobias Mayer 1762 mit 39 Jahren an einer Infektion (wahrscheinlich Typhus)– ein indirektes Opfer des Siebenjähriges Krieges, denn Mayer hatte sich bei der Pflege eines in seinem Hause einquartierten französischen Offiziers angesteckt.

Nach Mayers Tod blieb die Sternwarte für 27 Jahre ohne eigene Leitung und wurde von der Mathematik mitverwaltet. 1789 wurde Karl Felix von Seyffer als Leiter des Observatoriums eingesetzt.

In dieser Zeit erfuhr Carl Friedrich Gauß (>> Stationen Universitätssternwarte, Gauß-Grabmal und C.F. Gauß-Studentenwohnheim) als Student (1795-1798) seine Ausbildung u.a. bei Seyffer in der Sternwarte sowie bei A.G. Kästner und G.C. Lichtenberg (>> Stationen Lichtenberghaus, Lichtenberg-Denkmal und Städtisches Museum).

1801 besuchte Goethe bei einem Aufenthalt in Göttingen das Observatorium.


[1] Johann Stephan Pütter, Versuch einer academischen Gelehrten-Geschichte von der Georg-Augustus-Universität zu Göttingen, Tl. 1 [1734-1764], 1765, S. 329; zit. nach: Jens-Uwe Brinkmann, „Der gantzen Stadt zur Zierde und Annehmlichkeit“. Die öffentliche Bautätigkeit, in: Stadt Göttingen, Kulturdezernat: Göttingen im 18. Jahrhundert. Eine Stadt verändert ihr Gesicht, Göttingen 1987, S. 255-324, hier: S. 321

Neubau außerhalb der Stadt

Trotz mehrerer Erweiterungsbauten erwiesen sich Gebäude und Standort des Observatoriums um die Jahrhundertwende immer deutlicher als mangelhaft. 1803 wurde deshalb mit dem Bau eines ganz neuen Gebäudes außerhalb der Stadtgrenzen begonnen. Zusammen mit Karl Ludwig Harding übernahm Gauß in seiner zweiten, 1807 beginnenden Göttinger Zeit die Leitung der Sternwarte in Klein Paris bis zum Umzug in das neue Gebäude an der Geismarlandstraße im Jahre 1816 (>> Station Universitätssternwarte).

Bereits 1821/22 erfolgte ein Teilabriss des nunmehr kaum genutzten Turmes. Der zunächst verschonte Teil stand noch bis 1897 und wurde zuletzt als städtisches Spritzenhaus genutzt.

Überdauert hat das alte Observatorium aber in einem ironischen Gedicht des Dichters und Mathematikers Abraham Gotthelf Kästner (1719-1800), u.a. Lehrer von Gauß und von diesem etwas spöttisch sinngemäß „unter den Mathematikern der beste Dichter, unter den Dichtern der beste Mathematiker“ genannt:

 

Auf der Sternwarte.

Den Sternturm musst ein Jüngling oft besteigen,

Sein Lehrer wollt ihm da die Venus zeigen,

Und das bei hellem Sonnenschein.

Als beide manchen Weg sich nun umsonst gemacht,

Fand, ohne Lehrer, ganz allein,

Der Jüngling sie bei Nacht.

 

Überdauert haben auch einige bedeutende materielle Zeugnisse aus der Alten Sternwarte, die sich heute in der Sammlung der Neuen Sternwarte befinden. Darunter sind die Erstausstattung des Instituts, die um 1750 aus der Sammlung des Hannoverschen Geheimrates und Großvogtes Joachim Heinrich Freiherr von Bülow nach Göttingen kam und u.a. eine Äquatoriale Ringsonnenuhr von Culpeper enthält, die Druckplatten für das Mondglobus-Projekt von Tobias Mayer, englische Instrumente wie ein kleines Linsenfernrohr von Dollond (London, etwa 1780), ein zweiter, größerer Refraktor von Dollond (1785), ein Himmelsglobus von ca. 1750 und ein Spiegelteleskop von Short (um 1765), das ein Geschenk des Herzogs von York war.

König Georg III. schenkte dem Institut ein Spiegelteleskop aus der Produktion von Herschel, zu dessen Aufbau der Meister persönlich 1786 nach Göttingen kam. Das wichtigste Instrument der alten Sternwarte war ein großer Mauerquadrant von Bird (ca. 1751), den König Georg II. der Georgia Augusta geschenkt hatte. Er hing an der Innenwand der Sternwarte und wurde sowohl von Mayer als auch später von Gauß benutzt, der ihn in den östlichen Meridiansaal der Neuen Sternwarte mitnahm.

Die Großzahl der für die Arbeit der Sternwarte verwandten Instrumente stammte aus dem führenden Land der Mechanik im 18. Jahrhundert, aus England. Doch die Göttinger Institutsleitung war stets darauf bedacht, örtliche Mechaniker heranzuziehen, die mindestens Wartungsarbeiten und Reparaturen an den Geräten vornehmen konnten. Später gab man den Mechanikern auch Aufträge für eigene Instrumente oder Teile davon. Die Techniker, die sich damals als „Künstler“ verstanden, gehörten in der Regel der Universität an und unterstanden damit einer eigenen Gerichtsbarkeit, waren steuerfrei und oft keine Göttinger Bürger. Eine Ausnahme stellte der Göttinger Senator und Mechaniker Franz Lebrecht Kampe (1712-1785) dar: Zwischen 1750 und 1780 bekam Kampe viele Aufträge vom Observatorium. So lieferte er u.a. den optischen Teil des einfüßigen Quadranten, mit dessen Hilfe Tobias Mayer seine Mondtafeln herstellte. Kampe, der in Göttingen Mathematik studiert hatte, eine Art Lehrauftrag in mechanischen Künsten an der Georgia Augusta innehatte und auch Uhren und Teleskope an die Universität lieferte, gilt als Altmeister der Göttinger Feinmechanik. Der enge Zusammenhang mit der naturwissenschaftlichen Arbeit der Universität war konstituierend für die Entwicklung der Messtechnik in Südniedersachsen.