Der Asteroid Ryugu ist von seinem Entstehungsort bis zu seiner heutigen, erdnahen Umlaufbahn möglicherweise nicht so weit gereist, wie bisher angenommen. Neue Untersuchungen, die heute in der Fachzeitschrift Science Advances erscheinen, legen nahe, dass Ryugu in der Nähe des Jupiters entstanden ist. Frühere Studien hatten seinen Ursprung jenseits der Saturnbahn verortet. Die japanische Raumsonde Hayabusa 2 hatte vor vier Jahren Proben von Ryugu zurück zur Erde gebracht. Forschende unter Leitung des Max-Planck-Instituts für Sonnensystemforschung (MPS) in Göttingen haben nun verglichen, welche Arten von Nickel sich darin und in typischen kohlenstoffreichen Meteoriten finden. Die Ergebnisse zeigen eine Alternative zu den bisherigen Vorstellungen von den Geburtsorten dieser Körper auf. Demnach könnten unterschiedliche kohlenstoffreiche Asteroide in derselben jupiternahen Region entstanden sein – allerdings zum Teil durch verschiedene Prozesse und mit etwa zwei Millionen Jahren Abstand.
Die nur wenige Gramm schweren Gesteinsproben des Asteroiden Ryugu, welche die Raumsonde Hayabusa 2 im Dezember 2020 zur Erde brachte, haben schon einiges mitgemacht. Nach ersten Untersuchungen in Japan reisten einige der winzigen, tiefschwarzen Körnchen zu Forschungseinrichtungen in aller Welt. Dort wurden sie unter anderem vermessen, gewogen, chemisch analysiert, Infrarot-, Röntgen- und Synchrontonstrahlung ausgesetzt. Am MPS prüfen Forschende, wie in der aktuellen Studie, in welchen Verhältnissen bestimmte Metall-Isotope in den Proben vorliegen. Als Isotope bezeichnen Wissenschaftler*innen Varianten desselben Elements, die sich nur durch die Anzahl der Neutronen im Kern unterscheiden. Untersuchungen dieser Art können helfen zu verstehen, wo im Sonnensystem Ryugu entstanden ist.
Ryugus Reise durchs Sonnensystem
Ryugu zählt zu den erdnahen Asteroiden: Seine Umlaufbahn um die Sonne kreuzt (ohne Kollisionsgefahr) die der Erde. Forscher*innen gehen jedoch davon aus, dass er ebenso wie andere erdnahe Asteroiden aus dem Asteroidengürtel zwischen den Umlaufbahnen von Mars und Jupiter ins innere Sonnensystem „zugereist“ ist. Die eigentlichen Geburtsorte der Asteroidengürtel-Bewohner dürften noch weiter entfernt von der Sonne außerhalb der Jupiterbahn liegen.
Aufschluss über Ryugus Ursprung und Werdegang können seine Verwandtschaftsbeziehungen geben. Wie sehr ähnelt er den Vertretern bekannter Klassen von Meteoriten? Dies sind Bruchstücke von Asteroiden, die sich ihren Weg aus dem Weltall bis zur Erde gebahnt haben. Die Untersuchungen der vergangenen Jahre lieferten eine Überraschung: Ryugu fügt sich zwar wie erwartet in die große Menge der kohlenstoffreichen Meteorite, der kohligen Chondrite, ein. Detaillierte Untersuchungen seiner Zusammensetzung ordnen ihn jedoch einer seltenen Gruppe zu: den sogenannten CI-Chondriten, die nach dem tansanischen Fundort ihres bekanntesten Vertreters auch als Chondrite vom Ivuna-Typ bezeichnet werden. Neben dem Ivuna-Chondriten selbst wurden bisher nur acht weitere dieser Sonderlinge entdeckt. Ihre chemische Zusammensetzung gleicht dem der Sonne; sie gelten deshalb als besonders ursprüngliches Material, das am äußersten Rand des Sonnensystems entstanden ist. „Bisher sind wir davon ausgegangen, dass auch Ryugus Entstehungsort außerhalb der Saturnbahn liegt“, erklärt MPS-Wissenschaftler Dr. Timo Hopp, Co-Autor der aktuellen Studie, der bereits frühere Untersuchungen zu Ryugus Isotopenzusammensetzung geleitet hat.
Die jüngsten Analysen der Göttinger Wissenschaftler*innen zeichnen nun ein anderes Bild. Das Team hat erstmals untersucht, in welchen Verhältnissen Nickel-Isotope in vier Proben des Asteroiden Ryugu und sechs Proben kohliger Chondrite vorliegen. Dabei bestätigte sich zwar die enge Verwandtschaft zwischen Ryugu und den CI-Chondriten. Doch die Vorstellung vom gemeinsamen Geburtsort am Rand des Sonnensystems ist längst nicht mehr zwingend.
Eine fehlende Zutat
Was war passiert? Bisher hatten Forschende kohlige Chondrite als Mischungen von drei „Zutaten“ verstanden, die sich in Querschnitten sogar mit dem bloßen Auge erkennen lassen. Eingebettet in feinkörniges Gestein drängen sich dicht an dicht sowohl runde, millimetergroße, als auch kleinere, unregelmäßig geformte Einschlüsse. Die unregelmäßigen Einschlüsse sind das erste Material, das in der heißen Gasscheibe, die einst um die Sonne kreiste, zu festen Klümpchen kondensierte. Später entstanden die runden silikatreichen Chondren. Unterschiede in der Isotopenzusammensetzung zwischen CI-Chondriten und anderen Gruppen kohliger Chondrite führten Forschende bisher auf unterschiedliche Mischungsverhältnisse dieser drei Zutaten zurück. So bestehen etwa CI-Chondriten überwiegend aus feinkörnigem Gestein, ihre Geschwister sind deutlich reicher an Einschlüssen. Doch wie das Team in der aktuellen Veröffentlichung beschreibt, passen die Ergebnisse der Nickel-Messungen nicht in dieses Schema.
Die Rechnungen der Forscher zeigen nun, dass sich die Messergebnisse nur durch eine vierte Zutat erklären lassen: kleinste Eisen-Nickel-Körnchen, die sich im Laufe der Asteroidenentstehung ebenfalls angelagert haben müssen. Im Fall von Ryugu und den CI-Chondriten muss dieser Vorgang besonders effizient gewesen sein. „Bei der Entstehung von Ryugu und den CI-Chondriten einerseits und den anderen Gruppen kohliger Chondrite andererseits müssen offenbar völlig unterschiedliche Prozesse am Werk gewesen sein“, fasst Fridolin Spitzer vom MPS, Erstautor der neuen Studie, den Grundgedanken zusammen.
Nach Ansicht der Forschenden begannen sich etwa zwei Millionen Jahre nach der Entstehung des Sonnensystems die ersten kohligen Chondrite zu bilden. Angezogen von der Schwerkraft der noch jungen Sonne machten sich Staub und erste feste Klümpchen vom äußeren Rand der Gas- und Staubscheibe auf den Weg ins innere Sonnensystem, trafen dabei jedoch auf ein Hindernis: den gerade entstehenden Jupiter. Außerhalb seiner Umlaufbahn häuften sich besonders die schweren und größeren Bröckchen an – und wuchsen so zu kohligen Chondriten mit ihren vielen Einschlüssen heran. Gegen Ende dieser Entwicklung nach etwa zwei Millionen Jahren gewann ein anderer Prozess die Überhand: Unter dem Einfluss der Sonne verdunstete außerhalb der Jupiterbahn nach und nach das ursprüngliche Gas – und reicherte dort vor allem Staub und Nickel-Eisen-Körnchen an. Dies war die Geburtsstunde der CI-Chondrite.
„Die Ergebnisse haben uns sehr überrascht. Wir mussten völlig umdenken – nicht nur in Bezug auf Ryugu, sondern auch in Bezug auf die gesamte Gruppe der CI-Chondrite“, so Dr. Christoph Burkhardt vom MPS. Die CI-Chondriten stellen sich nun nicht mehr als entfernte, sonderbare Verwandte der übrigen kohligen Chondrite vom äußersten Rand des Sonnensystems dar, sondern eher als jüngere Geschwister, die möglicherweise in derselben Region, aber später und durch einen anderen Prozess entstanden sind. „Die aktuelle Untersuchung zeigt, wie entscheidend Laboruntersuchungen dazu beitragen können, die Entstehungsgeschichte unseres Sonnensystems zu entschlüsseln“, so Prof. Dr. Thorsten Kleine, Direktor der Abteilung für Planetenwissenschaften am MPS und Koautor der Studie.